Die natürliche Struktur eines Herdenverbandes
Pferde sind Fluchttiere und stehen als Pflanzenfresser eher am Anfang der Nahrungskette. Betrachtet man auch ihre historischen Vorfahren, so können unsere heutigen Pferde auf eine Entwicklungsgeschichte von stolzen 50 Millionen Jahren zurückblicken. Aufgrund der Tatsache dass das Pferd verschiedenen Fleischfressern als Beutetier zum Opfer fallen kann, ist diese lange Zeitspanne eine Geschichte des Erfolges, die von Überlebensstrategien geprägt ist, welche alle auch ein Teil unserer heutigen domestizierten Pferde sind und damit Einfluss auf ihr instinktives Verhalten haben.
Doch worin ist dieser Überlebenserfolg begründet? Eine entscheidende Rolle dabei spielt der soziale Herdenverband. Von Natur aus leben Pferde in einer Gemeinschaft, der Herde, in der ganz klare Strukturen herrschen. Jede Herde wird angeführt von einem Leittier, dem die anderen Mitglieder Respekt entgegenbringen und dem sie voll und ganz vertrauen können. Dem Leittier traut der Rest der Herde zu, dass er oder sie die Herde schützen kann und bei Gefahren rechtzeitig warnt, um die Flucht zu ergreifen. Allerdings muss jedes Pferd mit seinem Energiehaushalt sparsam umgehen, da es in freier Wildbahn bei einem zu viel an Flucht nicht mehr genügend Nahrung aufnehmen könnte, um auf Dauer zu überleben. Es gilt also klug abzuwägen, wann Zeit ist, um zu fressen, und wann man besser fliehen sollte. So wird ganz leicht offensichtlich, welch verantwortungsvolle Aufgabe dem Leittier zufällt.
Doch auch der Rest der Herde ist optimal durchstrukturiert: Jedes Individuum kennt seinen Rang und weiß, wem es z.B. seinen Platz an der Raufe überlassen muss, oder wen es selbst wegschicken darf, um auf dessen Platz zu fressen. Im Allgemeinen wird diese Rangfolge innerhalb der Herde durch Rangkämpfe oder -Spiele geklärt, und jedes Mitglied weiß wo es hin gehört. Anders als bei vielen Menschen streben die Pferde allerdings nicht nach Macht und solche, die für diesen Job nicht geeignet sind, kommen auch nicht in greifbare Nähe der Leittierposition. Ob ein Pferd eher als ranghoch oder rangniedrig gilt, scheint diesem schon in die Wiege gelegt zu sein. Aus dem rangniedrigsten Tier kann im Laufe seines Lebens also zumeist nie ein Leittier werden. Trotzdem kann sich die Rangfolge unter ähnlich hohen Individuen auch umdrehen. Folgende Grafik soll die Rangfolge innerhalb einer Herde beispielhaft verdeutlichen:
Das Leitpferd A steht unangefochten an der Spitze der Herde, und hält seine Position souverän über den gesamten betrachteten Zeitraum hinweg, während das Pferd F das Schlusslicht bildet und als rangniedrigstes Herdenmitglied allen anderen den Vortritt lässt, z.B. beim Fressen und Trinken. Da es aber zugleich den Schutz der gesamten Herde genießt, dürfte es offensichtlich zufrieden mit seiner Position sein. In unserem Beispiel gestaltet sich die Herdenmitte aus 4 weiteren Mitgliedern, von denen B und C so dicht in der Rangfolge beieinanderstehen, dass sie ihre Position im Laufe der Zeit sogar tauschen. Auch die Individuen D und E sind rangmäßig so dicht zusammen, dass sich ihre Position innerhalb des Herdenverbandes ebenfalls umdrehen könnte.
Der Sinn, der hinter dieser ganzen Struktur steckt, heißt Überleben und eine Herde wird sich jedesmal selbst so organisieren, dass dieses Ziel bestmöglich erreicht wird.
Werden neue Tiere in einen Herdenverband eingegliedert, so werden diese sich entsprechend ihrem angeborenen Rang in die bereits bestehende Struktur einfügen, was sich dann in Rangkämpfen mit denjenigen Pferden äußert, die einen ähnlich hohen Rang bekleiden.
Die Bedeutung der Rangfolge in der Mensch-Pferd-Beziehung
Wie oben beschrieben fühlt sich ein Herdenmitglied von einem ranghöheren Tier beschützt, vertraut diesem und bringt ihm Respekt entgegen. Vertrauen und Respekt sind in dieser Beziehung untrennbar miteinander verknüpft. Wird dem Ranghöheren kein Respekt entgegengebracht, kann auch nicht auf seinen Schutz vertraut werden, was angesichts des Zieles „Überleben“ als höchst unklug zu betrachten wäre. Wie wirkt sich dieses Herdenverhalten nun auf die Mensch-Pferd-Beziehung aus?Da es sich hierbei um eine Beziehung zwischen Mitgliedern verschiedener Arten handelt, trifft der Begriff Herde in diesem Fall natürlich nur bedingt zu. Allerdings sind dem Pferd andere Verhaltensweisen als das von ihnen seit Urzeiten praktizierte Herdenverhalten fremd, was bedeutet, dass wir uns diesem Verhalten bewusst sein und klug damit umgehen sollten. Wenn wir möchten, dass das Pferd uns vertraut und mit uns durch dick und dünn geht, sind wir selbst verantwortlich dafür, eine entsprechende Basis zu schaffen. Das Pferd kennt seinen eigenen Rang und ist wie wir wissen jederzeit gerne bereit, sich einem Ranghöheren unterzuordnen und ihm vertrauensvoll zu folgen, sofern sich dieser als souverän erweist und den lebensnotwendigen Schutz bieten kann. Wenn der Mensch sich also mit ruhiger und freundlicher Konsequenz als ranghöher etablieren kann, ohne dabei jedoch durch unnötig viel Druck Angst im Pferd erzeugt zu haben, wird ihm das Pferd höflichen Respekt zollen und seinen Anweisungen gerne Folge leisten.
In oben dargestelltem Diagramm ist der Optimalfall einer Mensch-Pferd-Beziehung dargestellt. Der Mensch erweist sich durch sein jederzeit konsequentes Verhalten als klarer Führer; das Pferd ordnet sich gerne unter, da es auf den Schutz des Menschen bauen kann. Selbstverständlich bringt es ihm damit auch den nötigen Respekt entgegen. Die Führungsposition des Menschen wird vom Pferd nicht als „Unterdrückung“ empfunden, sofern der Mensch sich durch ein jederzeit freundliches aber konsequentes Verhalten auszeichnet, sondern eher als „Entlastung, da das Pferd nun von den Aufgaben, auf sich selbst acht zu geben, entbunden ist. Es vertraut dem Menschen und somit kann sich eine harmonische Beziehung einstellen, die sich doch eigentlich jeder Pferdebesitzer wünscht.
Probleme in einer Beziehung zwischen Mensch und Pferd entstehen grundlegend dadurch, dass im Umgang miteinander nicht jene Konsequenz eingehalten wird, derer das Pferd als Basis für eine Sicherheit aber bedarf. Entschließt sich jemand dazu, seinem Pferd alle Freiheiten zu gönnen und ihm keinerlei Vorschriften zu machen, also ein Laissez-faire-Stil, so tut er seinem Pferd damit leider nichts Gutes, obwohl dem Menschen, der sich gerade aus diesem Grunde selbst als „lieb zum Pferd“ bezeichnen würde, das nicht wirklich bewusst ist. Er produziert damit vorhersehbar eine Situation, in welcher sich das Pferd auf sich selbst gestellt sieht. Den Schutz, den eine Herde normalerweise bietet, gibt es in diesem Fall einfach nicht, in der Natur wäre das Pferd über kurz oder lang dem Tode geweiht! (Eigentlich eine schreckliche Situation, wenn man das einmal aus der Sicht des Pferdes betrachtet!) Selbstverständlich mangelt es in einer derartigen Beziehung auch an Respekt: Das Pferd, das nur tut was es will, braucht dem Menschen und seinen Anweisungen nicht zu folgen und zeigt allgemein ein respektloses Verhalten. Doch gleichzeitig respektiert auch der Mensch die Grundbedürfnisse seines Pferdes nach Schutz nicht. Auch das muss man sich erst einmal klar machen und erkennen, wie wichtig es für das Pferd ist, einen sicheren Anführer an seiner Seite zu wissen! Im Extremfall kann eine Situation, in der das Pferd in der Rangfolge über dem Menschen steht, sogar (für beide) lebensgefährlich werden!
Selbst wenn ein Mensch im Umgang mit dem Pferd nicht den oben angesprochenen Laissez-faire-Stil walten lässt, weil er durchaus von seinem Tier erwartet, dass die gestellten Aufgaben erfüllt werden, muss das nicht automatisch heißen, dass er damit gleich ein guter souveräner Führer ist. Sollte jemand durch Inkonsequenz seinen eigenen Rang ständig so variabel erscheinen lassen, dass er mal über dem Pferd steht und sich ihm im nächsten Moment durch eine unbedachte Geste unterordnet, nur um im Folgenden wieder Kommandos zu erteilen, ist das Unverständnis des Tieres ohne Zweifel vorprogrammiert. Einerseits wird vom Menschen, damit er seine ranghöhere Position wieder gewinnen kann, mehr Druck (in welcher Form auch immer) ausgeübt werden, als es nötig wäre, wenn er konstant den höheren Rang bekleidet. Andererseits kann auf so einer wackeligen Basis das Pferd auch nicht das nötige Grundvertrauen aufbauen. Worauf soll es sich auch verlassen können, wenn es beispielsweise dem Menschen das Futter aus der Hand „nehmen“ (Der Ranghöhere frisst dem unter ihm Stehenden das Futter weg!), an ihm herum knabbern oder ihn durch Ablecken zum „Salzleckstein“ degradieren darf und dann im nächsten Moment Gehorsam von ihm verlangt wird.
Aus Sicht des Pferdes könnte sich somit folgendes beispielhaftes Rangschema ergeben:
Das Pferd, das von Natur aus im Herdenverband klare Strukturen und eine eindeutige Rangfolge gewohnt ist, was nicht zuletzt Sicherheit bedeutet, wird hierbei mit einer ihm völlig fremden Situation konfrontiert und muss ständig zwischen der Rolle des Leittiers und des Rangniederen hin und her wechseln. Als Basis für eine vertrauensvolle Partnerschaft zwischen Mensch und Pferd kann diese Situation also kaum dienen.
Ich möchte mit diesem kleinen Exkurs in die Bedeutung der Rangfolge zwischen Pferd und Mensch niemanden in seiner Art mit Pferden umzugehen kritisieren. Glücklicherweise leben wir in einer Gesellschaft, in der normalerweise jeder das Beste für sein Tier möchte und jeder ist sich sicher, dass das, was er tut, auch das Beste für sein Pferd ist. Ich möchte Sie hiermit einfach nur dazu einladen, die Dinge einmal aus der Sicht des Pferdes zu betrachten. Welches Verhalten würde sich ein Pferd von seinem menschlichen Gegenüber wünschen, damit es mit Zufriedenheit eine harmonische Partnerschaft mit ihm eingehen möchte?
© by Astrid Winterhalter
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